45. Plenarrede von Dr. Anja Weisgerber zum Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit

Rede im Deutschen Bundestag, 14. Februar 2019

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Persönliche Schicksalsschläge, der Verlust des Arbeitsplatzes, Suchtprobleme, all das sind Auslöser für Wohnungslosigkeit. Aber auch der Wohnraummangel und die steigenden Mieten führen dazu, dass die Wohnungslosigkeit gerade in den Ballungszentren steigt.

Besonders in den kalten Wintermonaten sind die eisigen Temperaturen für Menschen ohne ein Dach über dem Kopf lebensgefährlich. Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Immer wenn ich, auch hier in Berlin, Obdachlose sehe, dann fühle ich mit ihnen und frage mich, wie es so weit kommen konnte, dass diese Menschen auf der Straße leben.

(Caren Lay (DIE LINKE): Man kann was tun!)

Insofern muss ich zustimmen: Jeder Obdachlose ist einer zu viel; da sind wir uns alle einig, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dann muss man auch etwas machen! Was schließen Sie daraus?)

Deshalb ist es wichtig, dass wir für die Menschen, die obdach- und wohnungslos sind, Hilfsangebote machen. Die Angebote müssen für die persönliche Situation individuell erfolgen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Staat bereits zahlreiche Maßnahmen anbietet, um Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu vermeiden. Deutschland ist ein funktionierender Sozialstaat.

(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Warum sind hier mehr Obdachlose als woanders?)

Meine Damen und Herren, die Politik verfolgt in erster Linie einen präventiven Ansatz und vermittelt vor allem Hilfen, bevor Wohnungslosigkeit entsteht. Es gibt die Ansprüche der Mindestsicherung nach dem Zweiten und dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch. Es muss bei uns in Deutschland niemand auf der Straße leben; der Staat bietet Hilfen an.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU - Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Warum leben die dann auf der Straße?)

Trotzdem - ich gehe gern darauf ein - passiert es, und dem müssen wir entgegenwirken. Aber entgegen der Behauptung der Antragsteller macht die Bundesregierung bereits einiges, um den betroffenen Menschen zu helfen.

(Caren Lay (DIE LINKE): Das scheint nicht zu wirken!)

Es gibt in Deutschland eine Vielzahl von Programmen, um Menschen, die in Not geraten sind, zu unterstützen.

(Stefan Schmidt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die reichen offensichtlich nicht aus!)

Weil Sie es mir nicht glauben, möchte ich auf die einzelnen Programme eingehen:
Der Bund unterstützt seit mehreren Jahren die Projekte der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Allein in den letzten drei Jahren wurden über 900 000 Euro durch den Bund investiert. Hier werden bestimmte Adressatengruppen wie Straßenkinder oder auch obdachlose Frauen besonders in den Fokus genommen.

Mit dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen in Deutschland, kurz: EHAP, werden Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen besonders durch Bundes- und EU-Mittel mit Hilfsangeboten unterstützt. Gefördert werden insbesondere Beratungsstellen, die mit zusätzlichem Personal ausgestattet werden, um Förderprogramme mit den jeweiligen Zielgruppen zu vernetzen. Viele Menschen wurden bereits beraten, und es wurde Hilfe angeboten, und diese Hilfsangebote wurden auch bereits angenommen.

Ich kann Ihnen auch noch berichten: Aus meiner Zeit als Europaabgeordnete weiß ich, dass es den Europäischen Sozialfonds gibt. Ich habe da viele Projekte in Deutschland besucht - auch in meiner Heimatstadt Schweinfurt -, mit denen Jugendliche, die aus schwierigen Familien stammen - auch mit langjährigem Hartz-IV-Bezug, Hartz-IV-Generationen -, an die Hand genommen wurden. Ihnen wurde der Weg bereitet, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, aus diesem Umfeld auszubrechen; denn vielleicht könnten auch sie auf der Straße enden. Das wollen wir nicht. Gerade diesen jungen Menschen müssen wir doch eine Chance geben, meine Damen und Herren!

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich halte es auch für ganz wichtig, den ehrenamtlichen Beitrag von vielen Menschen in Deutschland, die auch den Obdachlosen helfen, an dieser Stelle einmal zu würdigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Hier leisten Kirchengruppen, Stadt- und Bahnhofsmission, Caritas und ehrenamtliche Vereine großartiges Engagement für ihre Mitmenschen. So vermeiden wir auch eine Ausgrenzung dieser Menschen. Das macht eine funktionierende Gesellschaft aus. Das weiß ich zu schätzen und bedanke mich noch mal ganz außerordentlich für dieses ehrenamtliche Engagement.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)

Gerne möchte ich auch noch auf die immer wieder geforderten Statistiken zur Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland zu sprechen kommen. Zweifelsfrei können exakte Zahlen ein besseres Hilfsangebot für Menschen in Not ermöglichen. Die Umsetzung - das gehört auch zur Wahrheit - ist aber schwierig; denn selten bleiben Obdachlose dauerhaft an einem Ort. Wie soll hier denn Erfassung erfolgen? Auch wollen sich viele Menschen, die in solche Situationen geraten, einer Erfassung eher entziehen. Die Motive dafür sind auch durchaus nachvollziehbar. Zusätzlich weisen Experten richtigerweise darauf hin, dass es schwierig ist, zwischen vorübergehender und dauerhafter Obdachlosigkeit zu unterscheiden. Dies macht eine exakte Erfassung so schwierig.

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat heute schon sehr hilfreiche Zahlen. Das sind wohl Schätzungen; aber darauf kann man aufbauen.

Trotz aller Statistiken und der Programme, die ich gerade angesprochen habe: Ein wichtiger Schlüssel ist und bleibt, dass wir auf allen Ebenen - ich betone noch mal: auf allen Ebenen -, Bund, Länder und Gemeinden, für mehr Wohnungen sorgen. Da muss man einfach noch mal feststellen: Seit der Föderalismusreform liegt die Zuständigkeit für den sozialen Wohnungsbau bei den Ländern. Der Bund hat dennoch die Kompensationsmittel für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung gestellt. Es gibt Länder, die hier mit gutem Beispiel vorangehen - ich möchte selbstverständlich Bayern erwähnen -

(Sören Bartol (SPD): Das war klar, dass das Bayern war! Woher wissen wir das nur? - Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Aber Hamburg auch!)

und intensiv in den sozialen Wohnungsbau investieren. Für die Jahre 2020 und 2021 erhalten die Länder vom Bund mindestens 2 Milliarden Euro für den sozialen Wohnungsbau. Wir setzen jetzt darauf, dass die Grundgesetzänderung, die vor kurzem im Bundestag beschlossen wurde, auch kommt. Wir appellieren an die Länder, dass diese Gelder in den Ländern endlich zielgerichtet eingesetzt werden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Ulli Nissen (SPD)- Zuruf von der LINKEN): In Bayern zum Beispiel!)

Um die Wohnraumoffensive durchzusetzen, ist es wichtig, dass wir uns an verschiedene gesellschaftliche Gruppen und Akteure wenden. Wir haben zum einen die Sonderabschreibung, damit mehr Wohnungen gebaut werden. Wir haben die Erhöhung des Wohngeldes, die ja auch im Koalitionsvertrag schon verankert wurde und die kommt. Wir haben die Wohnungsbauprämie, um junge Menschen aufzufordern, zu sparen,

(Zuruf von der AfD: Viel zu wenig!)

damit sie sich später auch eine Wohnung leisten können. Wir haben das KfW-Bürgschaftsprogramm. Und wir haben das Baukindergeld. Wir haben auf allen Ebenen etwas. Ich sage Ihnen auch: Wir brauchen auch die Eigentumsförderung; das werden wir vonseiten der Union immer wieder betonen.

(Caren Lay (DIE LINKE): Das werden Ihnen die Obdachlosen dann auch danken!)

Sie sehen: Wir tun einiges. Ich würde mich freuen, wenn auch die Opposition das mal anerkennen würde.
Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD - Caren Lay (DIE LINKE): Selbst in der Rede zur Obdachlosigkeit ist das Baukindergeld!)