EU-Erweiterung - eine politische Vision und wirtschaftliche Chance

Sehr geehrte Damen und Herren,
Vielen Dank für die Einladung zum heutigen 3.Würzburger Wirtschaftsforum.
Ich freue mich, heute als Ihre unterfränkische Europaabgeordnete in Vertretung des Europaministers Sinner sprechen zu können und übermittle Ihnen seine besten Grüße und Wünsche.
Am 13. Juni diesen Jahres haben mich die Bürgerinnen und Bürger als Europaabgeordnete für Unterfranken gewählt und ich möchte zunächst die Gelegenheit hier nutzen, um mich und meine Arbeit all denen, die mich noch nicht persönlich kennen, kurz vorzustellen.
Ich bin im Europäischen Parlament zusammen mit 8 anderen Kolleginnen und Kollegen der CSU-Europagruppe.
Die CDU/CSU ist im Parlament mit 49 Abgeordneten vertreten, wir sind Teil der 268 Personen starken EVP-ED-Fraktion, der größten im EP.
Ich bin Mitglied in den Ausschüssen für Umwelt, Volksgesundheit und Lebensmittelsicherheit sowie Beschäftigung und soziale Angelegenheiten.
Für mich bedeutet das, dass mehr als 40 Prozent der gesamten EU-Gesetzgebung auf der Agenda meiner beiden Ausschüsse steht und damit auch für mich interessant ist.
Die Palette ist sehr breit!
Entsprechend der Ausschüsse bin ich umwelt-, sozial- aber auch sportpolitische Sprecherin der CSU-Europagruppe.
Außerdem bin ich Mitglied in der SME-Union, einem Interessensverband zur Förderung von kleineren und mittleren Unternehmen.
Das Europäische Parlament tagt 44 Wochen im Jahr (vgl. Bundestag: 21 Sitzungswochen): 32 in Brüssel, 12 in Straßburg.
Gerade deshalb ist mir die Präsenz im Wahlkreis ein großes Anliegen und ich habe deshalb dafür ein Drei-Säulen-Konzept zur besseren Vermittlung von Europa im Wahlkreis entwickelt:
EUROPABÜRO,
BÜRGERSPRECHSTUNDEN
AG EUROPA
Ich möchte – entsprechend meinem eigentlichen Beruf der Rechtsanwältin –
ANWÄLTIN UNTERFRANKENS sein.
Ich verstehe mich und mein Büro auch als SERVICEZENTRALE, als Schaltstelle zur Unterstützung bei der Stellung von Förderanträgen!
Eigens Mitarbeiter angestellt, der sich nur um die Betreuung von Förderanträgen kümmert!
Ich sehe mich aber auch als ein Brückenkopf nach Europa.
Fast jede Woche habe ich inzwischen Besuchergruppen in Brüssel und Straßburg zu Besuch, manchmal organisiere ich selbst inhaltliche Fahrten und Treffen von Interessenvertretern aus Unterfranken mit EU-Funktionären.
Im nächsten Jahr werde ich z. B. in Zusammenarbeit mit der IHK unterfränkische Unternehmer zu einer Informationsfahrt nach Brüssel einladen.
Nun aber zum Thema des heutigen Vortrages:
„EU-Osterweiterung – Politische Visionen und wirtschaftliche Perspektiven“
Der jungen Generation sagt man ja nach, die visionärste von allen zu sein.
Es ist für mich deshalb auch eine große Ehre und Chance, heute mit Ihnen über politische, über europäische Visionen zu sprechen, die sich im übrigen sehr gut verknüpfen lassen mit dem 2. Punkt, den wirtschaftlichen Chance.
Leider so, dass sich dafür viel zu oft nur „Berufseuropäer“ interessieren.
Für die meisten Bürger ist die EU, der Zauber der „Idee Europa“ weit entfernt.
Doch es ist richtig, sich ab und zu der Vision eines geeinten Europa zu erinnern, um den richtigen Blickwinkel auf das europapolitische Tagesgeschehen zu behalten.
Oftmals kann man aus der Geschichte vieles für die Zukunft, für die Vision schöpfen.
Daher habe ich mich über Ihre Einladung besonders gefreut und möchte mit dem visionären Part beginnen.
Wenn man heute nach der Einstellung der Menschen zu Europa fragt, muss die Antwort wohl „zwiespältig“ lauten.
Einerseits prägt die EU unser aller Lebensbedingungen in entscheidendem Maße und ist sie Teil unseres Alltags geworden.
Was in Brüssel und in Straßburg beschlossen wird, wirkt sich direkt auf das Leben der Menschen in den Mitgliedstaaten aus.
Experten schätzen, dass heute 70 % des deutschen Rechts auf EU-Recht zurückzuführen sind.
Aber Europa beeinflusst auch unser Leben direkt.
Unsere Unternehmen operieren in einem weitgehend verwirklichten EU-Binnenmarkt. Für die meisten EU-Bürger sind das Reisen ohne Grenzkontrollen und der Euro zur Normalität geworden.
Leider drückte sich diese Normalität auch in einer historisch niedrigen Beteiligung an der Europawahl am 13. Juni aus – obwohl doch die EU immer mehr Entscheidungen trifft und obwohl das Europäische Parlament kräftigen Einfluss auf diese Entscheidungen hat.
Dennoch: Ob in der Umweltpolitik oder auf internationaler Ebene – die große Mehrheit der Bürger unterstützt europäische Lösungen und eine handlungsfähige EU.
Sie hat sich an die Vorteile gewöhnt.
Und im politischen Bewusstsein genießt die europäische Einigung als Grundpfeiler deutscher Politik seit dem Zweiten Weltkrieg eine breite Zustimmung.
Gleichzeitig hat „Brüssel“ kein gutes Image. Es steht für Geldverschwendung, Dauerstreit und Regelungswut, finanziert durch den deutschen Steuerzahler.
Begeisterung kommt beim Thema „Europa“ leider noch nicht wirklich auf – gerade auch, weil die Vorteile, die die EU bringt, so selbstverständlich geworden sind.
Nur wenige Menschen fühlen sich selbst so richtig europäisch.
Zudem sind die Kenntnisse über die EU häufig mangelhaft.
Wer was in Europa entscheidet und warum erschließt sich den meisten Bürgern nicht.
Gerade im Zuge der EU-Erweiterung befürchten viele Menschen die auf Deutschland zukommenden Kosten, Betriebsverlagerungen und einen Anstieg der Kriminalität.
Nach Meinungsumfragen hat die Akzeptanz der EU unter der Osterweiterung zusätzlich gelitten.
Ist die europäische Vision also tot?
Ich denke, sie ist es nicht.
Gerade die Erweiterung der EU am 1. Mai diesen Jahres bestätigt ihre Gültigkeit.
Die Erweiterung zeigt aber gleichzeitig, dass eine Vision nicht ausreicht für die Politik. Auch die politische Praxis und die Zahlen müssen stimmen, wenn die EU ein Erfolgsmodell bleiben soll.
Und wenn sie es schaffen soll, die Unterstützung der Bürger zu gewinnen.
Wie sie das schaffen kann – darüber will ich heute sprechen.
In der Rückschau lässt sich sagen:
Im Unterschied zu anderen politischen Visionen, die sich häufig als Ideologien und Irrwege herausstellten, wurde aus der Vision eines geeinten und friedlichen Europas ein Erfolg.
Die EU-Erweiterung lässt diese Vision über den westlichen Teil des europäischen Kontinents hinaus Wirklichkeit werden.
Dabei bedurfte es nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs erheblichen Mutes, um überhaupt ein geeintes Europa ins Auge zu fassen.
Machen wir uns das bewusst: Es waren nach dem 2. Weltkrieg gerade mal fünf Jahre vergangen, als Robert Schuman in Paris seinen Plan für Europa veröffentlichte!
Es war also der Mut der europäischen Gründungsväter: Jean Monnets, Robert Schumans und Konrad Adenauers, der es ermöglicht hat, dass die Vision Europas Wirklichkeit wurde.
Angesichts zweier Weltkriege innerhalb weniger Jahrzehnte, einer „Erbfeindschaft“ zwischen Frankreich und Deutschland und in einer Zeit des Kalten Krieges war es die Vision einer europäischen Ordnung, die zukünftige Kriege unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich machen sollte.
Es war eine Vision wachsenden Wohlstands durch Handel und einer Verbesserung der Lebensverhältnisse für alle.
Und genau das braucht auch unser Europa der 25: Visionen, Mut, aber auch eine Portion Realismus.
Und es war zum Glück nicht nur Mut, sondern auch eine geniale politische Idee, die hinter der Vision Schumans zum Vorschein kam.
Idealismus allein hätte der Vision nicht zum Erfolg verholfen.
So nutzten die Gründungsväter das gemeinsame Interesse an wirtschaftlichem Wohlstand, um ehemalige Gegner zusammenzuführen.
Der Ausgleich zwischen den landwirtschaftlichen Interessen Frankreichs und den Industrieinteressen Deutschlands stand Pate bei der Gründung der EWG – ein Binnenmarkt gekoppelt mit einer Gemeinsamen Agrarpolitik.
Der schrittweise sich vergrößernde Binnenmarkt bildete eine wesentliche Voraussetzung für den wirtschaftlichen Fortschritt in den EG-Mitgliedstaaten. Besonders Deutschland als exportorientierte Industrienation profitierte damals – und tut es heute noch.
Eine Tatsache, das muss man sagen, die bei der reinen Brutto-Netto-Rechnung des europäischen Haushaltes nicht auftaucht, für unsere Wirtschaft aber unverzichtbar ist.
Der wachsende Wohlstand verbesserte nicht nur die Lebensbedingungen, er festigte auch die Demokratie und Sicherheit in Europa.
Das Erfolgsrezept zuerst der Montanunion und dann der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war die Schaffung gemeinsamer Institutionen und die Integration der Volkswirtschaften ihrer Mitgliedstaaten.
Dadurch wiederum wurde der Ausgleich zwischen den Völkern gefestigt und die Grundlage für wirtschaftlichen Wohlstand gelegt.
Ohne die EU wäre Europa ein unsicherer und weniger wohlhabender Kontinent.
Für Deutschland war Europa immer besonders wichtig.
Ohne die europäischen Institutionen hätte Deutschland nach der Nazityrannei nicht so schnell wieder Aufnahme in die Gemeinschaft der Völker gefunden.
Neben der NATO war es die europäische Einigung, die Deutschland eine außenpolitische Verankerung gab.
Der Gemeinsame Markt half Deutschland, sich rasch von den Folgen des Krieges zu erholen.
Gerade für unser Land war die europäische Einigung stets ein Garant für eine glückliche Entwicklung.
Sicher ist es heute nicht mehr möglich, die EU allein aus ihrer historischen Leistung heraus zu rechtfertigen.
Sie muss sich auch dadurch bewähren, dass sie erfolgreiche Politik für ihre Mitgliedstaaten und die Bürger macht.
Das Ziel der EU ist unter anderem „die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus sowie die Herbeiführung einer ausgewogenen und nachhaltigen Entwicklung“ und „die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Angehörigen ihrer Mitgliedstaaten“ – kurz gesagt: Wir wollen den Lissabon-Prozess in die Tat umsetzen.
Im Rahmen dieses Prozesses hat sich die EU das ehrgeizige Ziel gesetzt, bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten, wissensbasiertesten Wirtschaftsraum der Welt aufzusteigen.
Das ist eine der größten Herausforderungen dieser Legislaturperiode!
An diesen Zielen muss sich die europäische Politik tagtäglich messen lassen.
Auch wenn das Ziel des Lissabon-Prozesses zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt aufzusteigen in dieser Zeit zunehmend weniger realistisch erscheint – für eine rohstoffarme und alternde Region wie Europa gibt es keine Alternative zu diesem Ziel, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen.
Wenn wir es richtig anpacken und einen effizienten gesetzlichen Rahmen schaffen, anstatt uns in Papierbergen zu verlieren und bürokratische Hürden zu bauen, bietet uns die Osterweiterung auch hier neue Chancen.
Europa gemeinsam entbürokratisieren – das ist die Devise der EU 25!
Darüber hinaus gilt es, die europäische Einigung nach innen zu konsolidieren - Stichwort „Europäischer Verfassungsvertrag“.
Die Staatsregierung ist nicht vollkommen zufrieden mit diesem Vertrag.
Er klärt die Kompetenzabgrenzung nicht endgültig, ein Gottesbezug fehlt und der Vertrag lässt Hintertüren zur Verlagerung neuer Kompetenzen auf die EU-Ebene – ich nenne als ein Beispiel den Sozialbereich.
Gleichzeitig aber, das muss man ganz klar sagen, macht der Verfassungsvertrag die EU der 25 handlungsfähig. Er macht transparenter und demokratischer.
Das Europäische Parlament wird deutlich gestärkt! In 90 Prozent der Fälle geht nichts ohne die Mitentscheidung des Parlaments!
Das ist gut und wichtig!
Ein Scheitern des Vertrages in einem der anstehenden Referenden in den Mitgliedstaaten wäre deshalb ein schwerer Rückschlag für Europa, mehr noch: Es macht die EU handlungsunfähig!
Es wäre eine schmerzliche Bestätigung dafür, dass man Europa nicht ohne die Bürger bauen kann.
Die Unterstützung und das Interesse der Bürger für die EU zu stärken, ist deshalb eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben für die Zukunft der EU, eine Aufgabe, der wir uns alle gemeinsam stellen müssen.
Sie, die Vertreterinnen und Vertreter der Wirtschaft wissen um die Bedeutung der EU – und ich möchte Sie heute einladen:
Bitte geben Sie das weiter, sagen Sie es auch ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.
Europa ist kein Raumschiff! Europa geht uns alle an!
Die Erweiterung der EU ist natürlich Teil dieser Vision eines friedlichen, stabilen und wohlhabenden Europa.
Nicht nur fühlten sich die Beitrittsländer angezogen von ihr und bestätigten damit ihre Anziehungskraft auch heute. Ihr Beitritt bringt die EU gleichzeitig der Verwirklichung dieser Ziele näher.
Der 1. Mai 2004 war ein historischer Augenblick und ein Grund zur Freude.
Noch vor 15 Jahren grenzte im Osten und Norden Bayerns die freie westliche Welt an einen hochgerüsteten Block von Diktaturen.
Heute treffen sich dort Partnerländer unter dem Dach der EU.
Den neuen Mitgliedstaaten bietet ihre Mitgliedschaft in der EU die bestmögliche Chance, ihre entbehrungsreiche Nachkriegsvergangenheit nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch wirtschaftlich zu überwinden.
Auch diese erweiterte EU wird in unseren Köpfen bald zur Normalität werden und die praktischen Sorgen in der erweiterten EU holen uns schon jetzt ein.
Doch auch hier sollten wir ab und zu unsere Erinnerung bemühen an den Eisernen Vorhang und was er bedeutete, und uns überlegen was denn die Alternative zu einer Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Länder in die EU gewesen wäre.
Zur Erweiterung der EU nach Mittel- und Osteuropa gab es politisch keine Alternative.
Es war kein Gnadenakt, nein, Europa hat sich auf das gemeinsame Streben aus Ost und West hin wiedervereinigt.
Wir haben die Gräben und Narben der Kriege an den Grenzen beseitigt.
Jetzt müssen wir auch noch menschlich zusammenwachsen.
In der Hinsicht hat die Erweiterung am 1. Mai 2004 eigentlich erst begonnen!
Zudem war es gerade aus deutscher Sicht wichtig, dass die EU nicht nur die Vereinigung Deutschlands aktiv unterstützt, sondern sich auch für die mittel- und osteuropäischen Länder öffnete.
Die EU-Erweiterung entspricht besonders den Interessen Deutschlands als des Landes im neuen Zentrum der erweiterten EU.
Wir sind aus einer absoluten Randlage am Eisernen Vorhang zu einem Land mit gateway-Funktion geworden.
Deutschland ist stärkster Handelspartner für die meisten der neuen Länder. Diese Chance müssen wir nutzen!
Der Beitritt der neuen Mitgliedstaaten stellt bereits heute eine enorme Leistung dar – vor allem dieser Staaten selbst.
Was sind 15 Jahre für den kompletten Systemwechsel, den diese Länder durchlaufen mussten, um aus sozialistischen Planwirtschaften zu funktionierenden Marktwirtschaften zu werden?
Und um ihr Rechtssystem zu reformieren und neue demokratische Institutionen aufzubauen?
Dazu kann man die neuen Mitgliedstaaten nur beglückwünschen.
Es ist die Leistung von Männern und Frauen, die sahen, dass die Zukunft ihrer Länder nur in Europa liegen kann.
Mit der Überwindung der Spaltung Europas und der Erweiterung der EU erfüllt sich ein weiteres Stück der Vision der europäischen Gründungsväter.
Die Erweiterung der EU ist ein großer Schritt hin zu dauerndem Frieden und politischer Stabilität auf unserem Kontinent.
Interessensunterschiede wird es innerhalb der EU auch weiterhin geben , aber ein Krieg ist praktisch unmöglich.
Ohne die EU hätte das Dach gefehlt, unter dem die west-, mittel- und osteuropäischen Staaten nach dem Fall der kommunistischen Herrschaft nun in Frieden vereinigt werden.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auf eine Frage zu sprechen kommen, die uns alle sehr bewegt: Die Frage eines Beitritts der Türkei zur EU.
Wie Sie wissen, hat die Europäische Kommission am 6. Oktober die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei empfohlen.
Sie hat dies unter einer Reihe von Bedingungen getan, die den besonderen Sorgen im Hinblick auf eine Türkei-Mitgliedschaft entgegen kommen sollen.
Gleichzeitig hat die Kommission festgestellt, dass viele Reformen in der Türkei bislang lediglich auf dem Papier stehen.
Daneben gebe es zum Beispiel weiterhin zahlreiche Fälle von Folter und Misshandlungen und Beschränkungen in der Meinungs- und Religionsfreiheit in der Türkei.
Unsere Haltung zu einer EU-Mitgliedschaft richtet sich nicht gegen die Türkei oder gar die Türken als Volk.
Vielmehr bewegt uns die Sorge um die Zukunft der EU.
Die zentrale Frage ist doch: Wo sind die Grenzen Europas, und ist eine Mitgliedschaft der Türkei für die EU überhaupt verkraftbar?
Unsere Antwort auf diese Frage ist ein eindeutiges „Nein".
Bereits mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder zur EU ist ihre wirtschaftliche und politische Integrationskraft bis auf Äußerste angespannt.
Aus unserer Sicht ist es ein gefährlicher Irrtum, anzunehmen, die EU könne ständig weiter wachsen, ohne dass sich ihr Wesen ändert.
Wir wollen keinen Rückschritt der EU zu einer gehobenen Freihandelszone – wir wollen ihren Fortschritt zu einer politischen Union.
Weil wir Europa zu einer politischen Union fortentwickeln wollen, wäre ein Beitritt der Türkei in die EU aus unserer Sicht hochproblematisch.
Eine schnell wachsende Türkei mit bereits heute 70 Millionen Einwohnern, Grenzen zu den Konfliktzonen Nahost, Irak und Kaukasus und einer Wirtschaftskraft, die bei 22 %, in den östlichen Landesteilen gar nur bei 7 % des EU-Durchschnitts liegt – das überfordert die EU.
Nach Angaben der Kommission kämen auf die EU Transferzahlungen von bis zu 28 Milliarden Euro jährlich zu.
Deutschland wäre mit fast 6 Milliarden dabei.
Das können wir nicht leisten.
Zudem ist die Türkei ein Land, das sich erheblich von unserer Kultur und unserem Wertesystem unterscheidet.
Im vergangenen Jahr kamen aus keinem anderen Land so viele Asylbewerber nach Deutschland wie aus der Türkei.
Wer davon ausgeht, dass die Verhandlungen 15 Jahre dauern werden, räumt ein, dass die Voraussetzungen für einen Beginn der Verhandlungen noch lange nicht vorliegen.
Dagegen befürwortet die Staatsregierung einen Ausbau der europäisch-türkischen Beziehungen außerhalb einer EU-Mitgliedschaft mit allen ihren Konsequenzen.
Unser Vorschlag ist der einer privilegierten Partnerschaft mit der Türkei.
Diese soll die politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei ausbauen, jedoch unter Ausschluss von sensiblen Bereichen und außerhalb der EU-Institutionen.
Wir hoffen, dass die Diskussion in den nächsten Wochen bis zur endgültigen Entscheidung der Staats- und Regierungschefs im Dezember die mit einem Türkei-Beitritt verbundenen, nicht hinnehmbaren Risiken deutlich macht.
Wir werden in dieser Zeit für unsere Position weiter werben.
Vor allem aber müssen wir jetzt, wenige Monate nach der großen Erweiterung um 10 neue Staaten und 100 Mio Bürgerinnen und Bürger die neue Einheit erst mal gestalten. Politisch und wirtschaftlich!
Und genau diese Entwicklungen sind lange nicht mehr nur Vision – sie laufen bereits.
Nicht nur Großkonzerne investieren in den neuen Mitgliedstaaten; auch mittelständische Unternehmen engagieren sich zunehmend.
Damit sind schmerzhafte Anpassungsprozesse in Deutschland verbunden, vor denen wir nicht die Augen verschließen dürfen.
Jedoch führt kein Weg um die Feststellung herum, dass wir uns dem Strukturwandel stellen müssen, um den langfristigen Wohlstand unserer Gesellschaft in einer globalisierten Welt zu sichern.
Auch insofern kann die Osterweiterung heilsam sein, als sie den Reformdruck auf Deutschland erhöht.
Unsere Probleme sind hausgemacht und haben nichts mit der Erweiterung und der EU zu tun. Zu hohe Lohnkosten, ein ausuferndes Steuersystem und zu hohe Steuern, sowie inflexible Arbeitsmärkte sind hier die 3 Stichworte.
Die deutlich niedrigeren Arbeitskosten und Steuern in Mittel- und Osteuropa verdeutlichen jedoch die Strukturschwächen der bestehenden Mitgliedstaaten und erhöhen den Zwang zu Reformen bei uns.
Deutschland und die EU wird wirtschaftlich besonders von der Erweiterung profitieren, wenn wir sie zum zusätzlichen Anlass zu durchgreifenden Strukturreformen nehmen.
Die Erweiterung kann damit zu einer „Frischzellenkur für den Koloss Europa“ werden, wie es das Handelsblatt vor einigen Monaten einmal formulierte.
Damit würde sie dem Ziel eines vermehrten Wohlstands auf unserem Kontinent – in den neuen wie in den alten Mitgliedstaaten – dienen.
Natürlich bedarf diese „Frischzellenkur“ sozusagen ärztlicher Betreuung.
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen, damit sie stattfindet.
Die Bereitschaft zu wirksamen wirtschaftlichen Strukturreformen in Deutschland, die unserer Wettbewerbsfähigkeit dienen, steht an oberster Stelle.
Es ist auch für die EU insgesamt wichtig, dass unser Land seine Strukturprobleme löst indem es seine Lohnnebenkosten senkt, sein Steuersystem reformiert und den Arbeitsmarkt flexibler macht.
Nur so wird Deutschland von der Konjunkturbremse wieder zum Wachstumsmotor in der EU werden.
Zugleich können wir auf faire Spielregeln nicht verzichten.
Wir wollen, dass sich unsere neuen Partner in der EU entwickeln, und wollen sie dabei unterstützen.
Diese Entwicklung darf jedoch nicht auf Kosten der Entwicklung in den alten Mitgliedstaaten gehen.
Das wäre der Fall, wenn zum Beispiel mit deutschen Steuergeldern über den Umweg der EU-Strukturförderung deutsche Arbeitsplätze in die neuen Mitgliedstaaten abgezogen werden, eins-zu-eins, und ohne dass dadurch gleichzeitig deutsche Jobs gesichert werden.
In ihren Vorschlägen zur Reform der Strukturförderung nach 2006 hat die Kommission, wie vom EP gefordert, erfreulicherweise eine entsprechende Sicherungsklausel vorgeschlagen:
Es gibt kein Geld für reine Arbeitsplatzverlagerungen.
Das hatte das Parlament auf Initiative der CSU zuerst gefordert.
Und wir wurden gehört!
Auch hat Bayern es zusammen mit ähnlich betroffenen Regionen in Österreich erreicht, dass die besondere Förderwürdigkeit der Grenzregionen zu den neuen Mitgliedstaaten von der Kommission anerkannt wird.
Dies ist ein wichtiger Fortschritt für Ostbayern.
In anderen Punkten dagegen droht die EU über das Ziel hinauszuschießen, vor allem beim zukünftigen Finanzrahmen der EU.
Ja – die neuen Mitgliedstaaten bedürfen verstärkter Hilfe durch die EU-Strukturförderung. Jedoch muss diese durch eine Umschichtung der Mittel und ihre Konzentration auf die neuen Mitgliedstaaten erbracht werden, und nicht durch die vorgeschlagene massive Ausweitung des EU-Haushalts.
Den Vorschlag der Kommission, den EU-Finanzrahmen von 100 Mrd. € pro Jahr heute auf 143 Mrd. € in der Periode 2007-2013 zu erhöhen, lehnen wir ab.
Der Finanzbedarf der EU darf nicht in den Himmel wachsen, während die Mitgliedstaaten sich Anstrengungen unterziehen, um ihre Maastricht-Ziele zu erreichen.
Haushaltsdisziplin muss auch für die EU gelten und darf nicht eine Spezialität der Mitgliedstaaten sein.
Denn eine drastische Rückführung der Staatsverschuldung ist Teil einer Strategie für ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum.
Gerade in einer erweiterten Union mit enorm gewachsenen wirtschaftlichen Unterschieden brauchen wir daher einen neuen Grundkonsens über die Notwendigkeit von Reformen und eine strikte Haushaltsdisziplin.
Die Verhandlungen über die Reform der Strukturfonds und die finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007 – 2013 müssen vor diesem Hintergrund geführt werden.
Und die politischen Entscheidungen der nächsten Jahre werden sich stets an der Frage messen müssen, inwieweit sie wirtschaftliches Wachstum fördern oder behindern.
Alte und neue Mitgliedsländer haben ein gemeinsames Interesse an einem wachstumsstarken und international wettbewerbsfähigen europäischen Wirtschaftsraum.
Daher müssen wir die Weichen EU-weit für mehr Wachstum stellen.
Eigentlich müssten in Brüssel - und bei uns selbst - die Alarmglocken schrillen bei der Nachricht, dass nur rund ein Viertel der Deutschen heute glauben, dass die Mitgliedschaft unseres Landes in der EU vor allem Vorteile bringe.
Ebenfalls rund ein Viertel sehen vor allem Nachteile.
Auf dieser Grundlage lassen sich keine weiteren
Fortschritte im europäischen Einigungsprozess verwirklichen, und steht auch der Erfolg des bereits Erreichten auf tönernen Füßen.
Die Vision eines geeinten Europa, bei deren Verwirklichung wir so riesige Fortschritte gemacht haben, droht im Alltag verloren zu gehen.
Von Zeit zu Zeit an diese Vision und diese Fortschritte zu erinnern ist deshalb wichtig.
Mindestens ebenso wichtig ist es, Politik so zu gestalten, dass sie dem Bürger vermittelbar ist.
Eine sparsame EU, die ihre Mittel effizient einsetzt, ist der beste Beitrag zu diesem Ziel.
Die EU-Erweiterung – am 1. Mai um 10 neue Staaten, und in Zukunft um Bulgarien, Rumänien und Kroatien – ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg der europäischen Einigung.
Diese Erweiterung zum Erfolg zu machen, ist die zentrale Herausforderung der EU in den kommenden Jahren.
Zugleich eröffnet sie die Aussicht auf ein dauerhaft wettbewerbsfähiges und wachstumsstarkes Europa.
Von Robert Schumann stammt der Gedanke: „Europa kann man nicht auf einen Schlag erschaffen – es entsteht Schritt für Schritt durch Taten“.
Europa hat sich in den letzten Jahren enorm entwickelt – und wir können noch viel mehr. Die Ziele sind da, den Weg aber können wir nur gemeinsam beschreiten.
Und genau deshalb sind wir auch alle auch aufgefordert, die europäische Idee zu unterstützen, anzupacken, mitzubauen.
Das Europa der Zukunft ist ein Europa der Bürgerinnen und Bürger – gemeinsam schaffen wirs!