"Vinzentag Caritas - Sozialverbände als Partner in der europäischen Politik"

Vielen Dank für die Einladung zu diesem Vortragsabend.
Und, um die Antwort auf die Frage des Abends gleich vorweg zu nehmen:
Wohlfahrtsverbände - Auslaufmodelle oder wichtige Partner von morgen?
Sozialverbände sind für mich zweifelsohne ein wichtiger Bestandteil unseres auf Solidarität bauenden Gesellschaftssystem und müssen auch als politische Partner ernst genommen werden - egal auf welcher politischen Ebene.
Gerade die kirchlichen Verbände waren und sind seit der Industrialisierung konstruktive, fordernde und aktive Zellen, die sich zu Wort melden, wenn es um Chancengleichheit und die Rechte der Schwächeren geht.
"Wer Mut zeigt, macht Mut" - so hat es Adolf Kolping einst formuliert.
Und dieses Zitat gilt heute noch.
Ihre Politik, Ihr Einsatz rüttelt auf, macht Menschen Mut und verändert die Gesellschaft.
Gerade für die CSU waren und sind die Grundsätze der christlichen Soziallehre Leitlinien der christlich-sozialen Politik.
Nichts desto trotz ist die Frage des heutigen Abends nicht aus der Luft gegriffen.
Die Wohlfahrts- und Sozialverbände sind, gerade in ihrer öffentlich-rechtlichen Struktur, eine deutsche Eigenheit, die wir auch in anderen europäischen Ländern nur selten finden.
Dem entsprechend problematisch wirken sich die - stets grundsätzlich verankerten Eckpunkte des gemeinsamen Binnenmarkts - im konkreten Fall auf die deutschen Sozialverbände aus.
Liberalisierung und Daseinsvorsorge sind die Stichworte, die uns alle gemeinsam beunruhigen.
Aber: Ich warne davor, diese Begriffe generell als Schreckgespenster zu verurteilen - und denke, dieser differenzierten Sicht können auch Sie sich anschließen.
Nicht selten erlebe ich verbale Schwarz-Weiß-Malerei, die es sich schlichtweg zu einfach macht.
Da ist man sich dann sofort sicher: "Die öffentlich-rechtlichen Strukturen in Deutschland sind bewährt – also zu bewahren, keine Frage".
Und: "Was aus Europa kommt, ist gefährlich –also abzuwehren."
Diese Argumentation stellt mich, als Europa- und Sozialpolitikerin natürlich nicht zufrieden, ihr mangelt es an Sachlichkeit.
Und ich hake dann gerne auch mal fragend nach: "Hilft uns Europa vielleicht auch, öffentliche Aufgaben besser zu erfüllen, – konzentrierter, kostengünstiger, zielgenauer, bürgerorientierter?"
Oder, etwas selbstkritisch: "Leisten unsere öffentlich-rechtlichen Strukturen im allgemeinen noch, was sie müssen?"
Ein Beispiel: Muss wirklich jede noch so kleine Gemeinde bei leerer Kasse Warmwasserbecken füllen, um mit einem Erlebnisbad werben zu können, das dann im Ende doch wieder viel zu wenige besuchen? - Nein, muss sie nicht.
Das kann auch die private Wirtschaft.
Sie weiß, wann sich ein solches Bad lohnt und soll es dann auch errichten dürfen.
Anders aber ist es im Bereich der sozialen Versorgung und Sicherung.
Hier, in ihren Kernaufgaben, da gebe ich Ihnen Recht, sind unsere deutschen Strukturen nicht nur - sie sind vorbildhaft für ganz Europa!
Und: Vollkommen privatisiert, profitorientiert, wären diese Leistungen weder flächendeckend, noch in der gebotenen Qualität zu erhalten.
Als Europapolitikerin muss ich Ihnen aber auch ganz ehrlich sagen: Dieser Meinung sind nicht alle meiner Kolleginnen und Kollegen der anderen europäischen Nationen.
Viele, auch das muss ich Ihnen offen sagen, können gar nicht genug bekommen in ihrem Privatisierungsdrang.
Wie gesagt, es sind viele - zum Glück jedoch nur selten die Mehrheit.

Stellt sich natürlich die Frage, wie europäische Sozialpolitik überhaupt aussieht. Wo ist den Regionen und Nationen die Hoheit genommen?
Um das nachvollziehen zu können, brauchen wir einen Exkurs in die europäische Geschichte:
Schon 1957 haben die Mitgliedstaaten die wirtschaftliche und soziale Integration als gleichgestellte Ziele ihres gemeinsamen Programms in der Präambel des EG-Vertrages formuliert.
Im Mittelpunkt aber standen und stehen andere Politiken, damals vor allem die wirtschaftliche Integration, die wir 1993 mit der Schaffung des Binnenmarktes vorläufig abgeschlossen haben.
In den vergangenen Jahren haben die Reformbestrebungen in den Bereichen der Sozialpolitik deutlich zugenommen und machen damit die Aktualität der Thematik deutlich.
Sozialpolitik wird auf dem europäischen Spielfeld immer bedeutender: Denn die Herausforderungen durchdemographische Veränderungen und die damit verbundenen Probleme, etwa der Sicherstellung der Renten, werden immer größer.
Trotzdem: Der Erhaltung der Subsidiarität gilt unser größtes Augenmerk - die Sozialisten vergessen diese Grenze sehr gerne!
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben auf dem Frühlingsgipfel am 23. und 24. März 2000 in Lissabon die sozialpolitischen Ziele der Union intensiv diskutiert.
Hier haben sie die Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu einem zentralen Thema der Modernisierung des europäischen Sozialmodells erklärt.
Außerdem haben sie die Förderung der sozialen Integration in den Mittelpunkt der globalen Strategie der Europäischen Union gestellt.
Diese Ziele sollen seit Lissabon nicht mehr nur durch die Arbeitsmarktpolitik, sondern durch eine sehr weit gefasste Koordination der Sozialpolitiken der Mitgliedstaaten erreicht werden.
Außerdem setzte sich die Union in Lissabon ein ehrgeiziges Ziel: Bis 2010 wollen die Mitgliedstaaten "die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum machen, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen."
Zu den grundlegenden Zielen der Sozialpolitik, die im Wesentlichen auf Koordinierung und nicht auf Harmonisierung der bestehenden Normen in den Mitgliedstaaten ausgerichtet ist, zählen die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, ein angemessener Sozialschutz, sozialer Dialog, die Aus- und Fortbildung von Humanressourcen sowie die Bekämpfung der Ausgrenzung.
Sie sehen: Sozialpolitik hat eine europäische Dimension, die nach Lösungen sucht und dafür den intensiven Dialog, die Koordinierung braucht.
Aber: Wir müssen dabei alle Modelle offen diskutieren können.
Wir, die wir zu den Sozialverbänden stehen, dürfen deshalb nicht müde werden, unsere Stimme zu erheben, Konzepte zu verteidigen und klar auf die Nachteile einer vollkommen privatisierten Welt hinzuweisen, bzw. klarzustellen, wo sie Sinn macht.
Deutschland, vor allem aber Bayern, braucht sich hier auch nicht zu verstecken, denn, wenn es um die Umsetzung verordneter Liberalisierung geht, haben wir die Nase vorn - während andere Ländern noch immer zaudern.
Wo notwendig, reflektieren wir unser öffentlich rechtliches System sehr kritisch: Nicht alles, was besteht, ist deswegen schon bewährt. Und nicht alles, was die Erfüllung öffentlich-rechtlicher Aufgaben gefährdet, kommt aus Brüssel.
Alles Bestehende muss sich am Neuen bewähren.

Die Entwicklung von Wirtschaft und Technik stellt die Menschen vor neue Anforderungen und weckt neue Bedürfnisse.
Mobilität, Internet, E-commerce verändern auch die Ansprüche der Menschen an Umfang, Organisation und Leistung von Daseinsvorsorge.
Die Entwicklung von Wirtschaft und Technik hat Wettbewerb auf Dienstleistungsmärkten möglich gemacht, die noch vor 25 Jahren nur als nationale oder regionale Monopole denkbar waren – bei Bahn und Post, bei Strom und Gas, mit Einschränkungen auch beim Wasser.
Das – nicht Brüsseler Eingriffswahn – zwingt uns alle, Strukturen zu schaffen, in denen über Kundenorientierung und Wirtschaftlichkeit nicht nur nachgedacht, sondern auch danach gehandelt werden kann – und Daseinsvorsorge nicht mehr mit Postenversorgung verwechselt wird
Wir gehen offensiv mit der Thematik um.
Wir stellen unsere gesamte öffentliche Daseinsvorsorge selbstbewusst hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit, Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit immer wieder auf den Prüfstand - auch ohne Brüsseler Gebote und Verbote.
Und weil wir das tun, wissen wir auch um die Vorteile unseres Sozialsystems, um - und ich sage das ganz klar - die Wirtschaftlichkeit, mehr noch: den Wirtschaftsfaktor unserer Sozialverbände.
Stellen Sie einmal auf der Straße die Frage, wer der größte private Arbeitgeber in Deutschland ist.
Die richtige Antwort ist überraschend und kommt entsprechend selten:
Es ist der deutsche Caritasverband mit fast 500.000 hauptamtlichen Beschäftigten, dicht gefolgt vom Diakonischen Werk der evangelischen Kirche mit gut 450.000 Mitarbeitern.
Zum Vergleich: Der größte deutsche Industriekonzern, Siemens, hatte im Jahr 2003 weltweit 417.000 Mitarbeiter, davon 170.000 in Deutschland.
Caritas und Diakonie haben zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt (AWO), dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband (DPWV) und dem Deutschen Roten Kreuz (DRK) insgesamt fast 1,3 Millionen Mitarbeiter, die in rund 100.000 Einrichtungen tätig sind.
Für die Freie Wohlfahrtspflege arbeiten nochmals geschätzte 1,5 - 1,8Millionen Menschen ehrenamtlich.
Insgesamt erwirtschaften die gemeinnützigen Einrichtungen der Wohlfahrtsverbände nach Schätzungen von Experten einen Umsatz von etwa 55 Milliarden Euro.
Mit ihren Einrichtungen haben sich die Wohlfahrtsverbände im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt.
Sie bieten ein umfassendes Angebot an sozialen Dienstleistungen an, ohne die das Leben vieler Menschen sehr viel beschwerlicher wäre.
Die Breite der Palette reicht von der Kinderbetreuung und der Familienberatung über Notfallrettung und Krankenhausbetrieb bis hin zur Pflege alter Menschen - und all das flächendeckend.
Die Marktanteile der Wohlfahrtsverbände sind groß.
Sie betragen bei Pflegeheimen 56 %, bei Kindertagesstätten 49 %, bei Pflegediensten 46 % und bei Krankenhäusern 40 %. Das Deutsche Rote Kreuz kontrolliert 80 % der Blutversorgung in Deutschland und ist bei der Bergrettung mit 90 % fast alleiniger Anbieter.
Ihre wirtschaftliche Bedeutung verdanken die Wohlfahrtsverbände vor allem dem Ausbau sozialer Leistungen, die zu einem wesentlichen Teil vom Staat an sie ausgelagert werden.
Dabei haben sich die Verbände und ihre Einrichtungen von privaten karitativen Hilfsorganisationen zu professionellen, erfolgreichen Dienstleistern gewandelt.
Zugleich sind sie - auf allen Ebenen - erfolgreiche politische Akteure.

Gleichzeitig, das darf man nicht verschweigen, befindet sich die Freie Wohlfahrtspflege in einer ausgeprägten rechtlichen und finanziellen Abhängigkeit von den öffentlichen Haushalten.
Zurzeit stammen etwa 83 % der Gesamteinnahmen aus öffentlichen Haushalten.
Die eigenen Mittel – vor allem kirchliche Zuwendungen, Spenden und Beiträge – bilden den Rest von 17 %, wobei auf Spenden trotz der steuerlichen Förderung nur ein Anteil von 3 % entfällt.
Die Freie Wohlfahrtspflege wird durch den demographischen Wandel besonders betroffen sein.
Die bisherige Finanzierung der Sozialsysteme ist gefährdet, weil immer mehr ältere Menschen in Deutschland leben und die Gesundheits- und Pflegekosten von immer weniger Menschen – und in einem immer kürzeren Arbeitsleben – finanziert werden müssen.
Gleichzeitig wird die Nachfrage nach sozialen Dienstleistungen stark zunehmen. Wir brauchen deshalb neue Konzepte für unsere Sozial- und Rentenabsicherung.
Diesem Wandel können wir uns zwangsläufig nicht verwehren.
Im Gegenteil: es ist höchste Zeit ihn anzugehen und ich bin, als Sozialpolitikerin, auch da den kirchlichen Verbänden, wie etwa der KAB, sehr dankbar für ihre Vorschläge, Modelle und die konstruktive Zusammenarbeit.
Egal ob Pflege, Notfalldienste oder Krankenversorgung - das Ziel muss sein, mit den vorhandenen Mitteln wirtschaftlicher umzugehen.
Die Reflexion unseres öffentlich-rechtlichen Modells im europäischen Vergleich kann, ohne dabei die bestehenden Fundamente anzugreifen, gute Ansätze bieten.
Es geht nicht anders.
Wir alle, auch die Freie Wohlfahrtspflege und die Nutzer sozialer Dienstleistungen müssen sich auf veränderte Rahmenbedingungen einstellen.
Die Diskussion um mehr Liberalisierung ist da nur ein Aspekt.
Zu nennen sind auch neue rechtliche Regeln durch die fortgesetzten Gesundheitsreformen, die anhaltende Finanzknappheit von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der zunehmende Wettbewerb durch privatgewerbliche Einrichtungen, unabhängige Selbsthilfegruppen und andere europäische Anbieter.
Die Wohlfahrtsverbände müssen sich auf diese Veränderungen einstellen - und die Politik muss sie dabei unterstützen.
Wir brauchen einen intensiven Dialog, für den ich persönlich gerne zur Verfügung stehe.
Und, weil ich die Wohlfahrtsverbände für ein zukunftsfähiges Modell halte, habe ich auch konkrete Ideen und Vorschläge, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte.
Wir müssen sparen - zuletzt an den sozial Schwachen, zu allererst an der Bürokratie.
Deshalb brauchen wir flächendeckend moderne Managementsysteme für Rechnungswesen, Qualitätsmanagement, Controlling und bei der Einrichtungssteuerung.
Wir brauchen auch uneingeschränkte Transparenz. Geldverschwendung können wir uns nicht leisten.
Deshalb halte ich verbesserte externe Kontrollen für unverzichtbar.
Steuer- und Beitragszahler sollen wissen, was mit ihrem Geld in den Sozialtöpfen geschieht.
Sozialpolitik fordert Professionalität und sind kein Nebenjob.
Laienvorstände und andere brauchen deshalb professionelle Berater.
Verflechtungen zwischen Politik und Wohlfahrtsverbänden sind - im Interesse beider - wenn vorhanden, dann aufzulösen.
Ein Kodex für gute Arbeit in Wohlfahrtsverbänden etwa kann hier helfen und Grundsätze schaffen.